Aufregung um RKI-Protokolle Schwarzer Balken vor dem Kopf
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Enthüllen die RKI-Files Details zur Pandemiepolitik? Das ist nebensächlich geworden. Denn in der Debatte geht es noch um das eigene Weltbild, meint unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.
Öffne ich in diesen Tagen Social Media, fühle ich mich zurückversetzt in andere Zeiten – aber ein Gefühl von Nostalgie will sich nicht in mir ausbreiten. Ganz im Gegenteil. Seit dem Wochenende ist das soziale Netz – selbst für soziale Netz-Verhältnisse – sehr aufgeregt. Seit dem Wochenende tobt auf X, aber auch gemäßigteren Plattformen wie Bluesky, der Deutungskrieg um die sogenannten RKI-Files. Und ich sag’ mal so: Abgesehen von der Quelle hat sich nichts Neues aufgetan. Die Frontlinien verlaufen ziemlich exakt so wie 2021.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Vergangenen Freitag meldete ein Online-Magazin, dass seine Klage auf Freigabe der Sitzungsprotokolle des Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) von Januar 2020 bis April 2021, also während einer heißen Phase der Corona-Pandemie, erfolgreich war. Nun sind die Dokumente online verfügbar – inklusive Schwärzungen.
Und nun, so formuliert es ein X-User, bastelt sich jeder seine eigene Verschwörung.
Nun muss man wissen, dass es sich bei dem Online-Magazin um ein der rechten Szene zugeneigtes Medium handelt. Der Macher hat, ich möchte es freundlich ausdrücken, ungewöhnliche Ideen darüber, wie die Anschläge vom 11. September 2001 auch gewesen sein könnten. Es gibt ein wohlwollendes Zitat eines Politikwissenschaftlers, es handle sich bei dem Herrn um einen "vergleichsweise geschickten Verschwörungstheoretiker".
Protokolle lassen Spielraum
Das allein sagt aber erst mal gar nichts über die Protokolle aus. Und das meine ich tatsächlich ernst und ohne jede Ironie. Und es sagt auch nichts über den Inhalt der Protokolle aus. Über die Antworten, die sie auf Fragen liefern könnten, wie: Wer hat welche Entscheidungen wann auf welcher Grundlage getroffen? Worauf fußten so unglaublich weitreichende Maßnahmen wie der Lockdown? Und vor allem: Hat, und falls ja, wie stark, die Politik Einfluss genommen auf die Arbeit des RKI?
Tja. Nun lassen die Protokolle Spielraum, denn Passagen und Namen darin sind geschwärzt. Zum Beispiel in den Aufzeichnungen vom 16. März 2021: "Am WE wurde eine neue Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (Name geschwärzt) ein Signal dafür gibt." Sechs Tage später wurde die Entscheidung zum Lockdown verkündet – von der Regierung. Nicht vom RKI.
Erstaunliche Vorstellungen von der "Wahrheit"
Nun ist für die einen glasklar: Hinter dem schwarzen Balken kann nur der Name Angela Merkel stecken. Das RKI hat auf einen Fingerzeig der Politik gewartet. Und die Lockdown-Entscheidung dann trotzdem als wissenschaftlich basiert verkauft. Diese Annahme, und nichts anderes als eine Annahme kann es aufgrund der Informationslage momentan sein, wird im Brustton felsenfester Überzeugung vorgebracht. Und zwar von denjenigen, die sich so unheimlich gerne bestätigt wissen wollen: Entscheidungen seien demnach nicht aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen worden, sondern seien dem politischen Willen unterworfen gewesen. Mehr noch: Die Politik habe die Corona-Pandemie als willkommenen Anlass genommen, endlich langgehegte Pläne wie die Aushöhlung der Bürgerrechte zu verwirklichen.
Solche Annahmen werden erstens von Leuten ins Netz geschrieben, die so auch schon während der Pandemie dachten. Und zweitens von nicht wenigen, die ebenfalls erstaunliche Vorstellungen von der "Wahrheit" haben, nicht nur bezogen auf den 11. September.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die der Erklärung des RKI glauben: Beim geschwärzten Namen handle es sich um eine Person aus dem Institut, sagte dieses auf Nachfrage dem "Spiegel". Auch diese Seite fühlt sich nun bestätigt darin, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
Gesundes Maß an Skepsis muss möglich sein
Nun möchte ich Corona-Leugner und -Schwurbler und Verschwörungstheoretiker nicht gleichsetzen mit Menschen, die dem Staat und seinen Institutionen vertrauen. Sich über sie verächtlich zu machen, mag in abgedrifteten und abdriftenden Milieus schick sein. Es ist aber vor allem ja eines: verantwortungslos. Nur wer die Welt brennen sehen will, der mag sich an dieser fortlaufenden Konfrontation erfreuen. Aber auch wer einen konstruktiven und nicht dem egoistischen Streben nach Unterhaltung untergeordneten Ansatz verfolgt, muss ja trotzdem ein gesundes Maß Skepsis gegenüber den Verantwortlichen an den Tag legen.
Und das ist tatsächlich ein Problem in der Debatte: die mangelnde Möglichkeit oder aber der mangelnde Wille, nüchtern auf die Protokolle zu schauen. Mögliche Fehler zu benennen – aber eben auch mögliche Fehler in der ersten Analyse. Die einen sehen sich außerstande, weil sie der anderen Seite keine weitere Angriffsfläche bieten wollen. Und vielleicht auch, weil Wagenburgmentalität keine Frage des Lagers ist.
Hauptsache, das Weltbild stimmt
Die anderen wollen das gar nicht, weil es nicht um die Sache geht. Sondern um nicht weniger als ein Weltbild. Es geht nicht um Erkenntnis. Es geht ums Gewinnen.
Es sind Schwärzungen im Protokoll. Grau ist da nichts. Und genauso wenig in der nun entbrannten Debatte, die so viele nutzen wollen, um alte Rechnungen zu begleichen. Und endlich doch recht gehabt zu haben. Um endlich schwarz auf weiß – na ja, immerhin geschwärzt auf weiß, zu sehen: Ihr Weltbild stimmt.
Social Media bedient diese trügerische Sehnsucht nach totaler Klarheit. Und gleichzeitig liefern Social Media und ein pinkfarbenes Fußballtrikot Anlass zur Hoffnung: Was war letzte Woche los, als der DFB das neue Auswärtstrikot für die Herren-WM präsentierte. Pink! Für Männer! Die Welt ging unter! Zumindest festigte sich der Eindruck bei der Lektüre meiner Timeline. Die Zahlen von Adidas aber sprechen eine völlig andere Sprache: Kein Trikot verkaufte sich je zuvor so gut wie das laut Social Web schlimmste aller Zeiten. Vielleicht wird dort doch heißer gekocht als im wahren Leben. Hoffentlich auch in Sachen Corona-Files.
- Eigene Meinung
- Der Spiegel: "Das steht in den Corona-Protokollen des RKI"